INNOVATIVE TECHNISCHE ENTWICK­LUNGEN BEIM AVV

INTERVIEW MIT
NILS ZEINO-MAHMALAT

Nils Zeino-Mahmalat ist seit 2013 Geschäftsführer der VDV eTicket Service GmbH & Co. KG. Wir haben ihn im Interview gezielt zu den AVV-Themen befragt.

Mit seinen Umsetzungen zeigt der AVV auch anderen Verbünden, was möglich ist und wie das geht. Von der Erfahrung und den Praxisberichten profitieren die Unternehmen der Branche, die neuen Technologien eher etwas skeptisch gegenüberstehen und den Aufwand scheuen. Technologie und Anforderungen bleiben aber nicht stehen und viele Unternehmen der Branche sind erst am Anfang der Digitalisierung. Hier ist der AVV ein wichtiger Multiplikator, vor allem im bevölkerungsreichsten Bundesland mit seiner dichten Verkehrsinfrastruktur.

Nils Zeino-Mahmalat, Geschäftsführer der VDV eTicket
Service GmbH & Co. KG, Köln

Der AVV hat sich im Gegensatz zu den NRW-Nachbarverbünden VRS und VRR relativ spät mit dem Thema Elektronisches Fahrgeldmanagement (EFM) beschäftigt. Im VRR und VRS sind bereits seit 2003 Chipkarten im Einsatz – Im AVV seit 2017.

Wie „weit“ ist der AVV hinsichtlich der Umsetzung des EFM – auch im Vergleich zu anderen Regionen oder bundesweit?

Die Einführung des Deutschlandtickets offenbart gerade, wie viele Regionen es noch gab, die Anfang 2023 noch bei null standen. Damit ist der AVV, der seit 2017 in Betrieb ist gut gerüstet. Insgesamt ist es auch immer schwierig zu sagen, wie weit eine betreffende Region ist. Am Ende muss gesehen werden, welche Kundengruppe mit welcher Technologie Zugang zum ÖPNV haben soll und ob dies standardkonform umgesetzt ist. Für den AVV lässt sich das daher gar nicht an einem frühen oder späten Einstieg in das elektronische Ticketing festmachen, sondern eher, daran, wie der AVV seine Wahl der Technologie umgesetzt hat. Hier können wir feststellen, dass der AVV immer standardkonform gearbeitet hat und damit mit Blick auf seine digitale Infrastruktur gut aufgestellt ist.

Was macht den AVV hierdurch interessant für die Umsetzung von Standards?

„Interessant“ ist ein schönes Wort. Der AVV steht vor der Herausforderung, in einem eng verzahnten grenzüberschreitenden Verkehr einen einfachen Zugang zu Ticket und Mobilität zu gewährleisten. Besonders spannend, weil die Niederlande eigene eTicket-Systeme betreiben, die auf anderen Standards und sogar teilweise auf anderen tariflichen Logiken beruhen. Ein Waben- oder Zonenbasiertes System aus Deutschland mit einem Check-In / Check-Out-Tarif aus den Niederlanden zu verheiraten, ist technologisch und für die Standardisierung schon sehr spannend. Weil es aufgrund der engen Besiedlung und Vielzahl von grenzüberschreitenden Bewegungen in der EUREGIO gibt, haben wir hier auch den wahrscheinlichen höchsten Bedarf in Deutschland für international standardisierte Ticketing-Lösungen. Daher ist der AVV bei allen internationalen Standardisierungsprojekten nicht nur wichtiger Partner, sondern auch immer Real-Labor für die Anwendung neuer harmonisierter Technologien.

Die Produkt- und Kontrollmodule sind ein geräteunabhängiger Standard zur elektronischen Abbildung und Verarbeitung von Tarifdaten. Sie ermöglichen das effiziente und flexible Einspielen von Tarifanpassungen in die Vertriebssysteme. Dadurch können tarifliche Änderungen, aber auch saisonale oder anlassbezogene Sondertickets, die dann den Fahrgästen zugute kommen, mit wenig Vorlauf in die Systeme eingepflegt werden.

Welche Möglichkeiten bieten sich mit der Verwendung von standardisierten Tarifmodulen (auch bekannt als Produkt- und Kontrollmodule) für die Verkehrsunternehmen und wie profitieren letztlich die Fahrgäste und auch die Unternehmen davon?

Die Produkt- und Kontrollmodule sind ein standardisiertes Abbilden von Tarifdaten. In erster Linie helfen Sie den Tarifverantwortlichen und der Industrie dabei, schnell und effizient tarifliche Anpassungen in die Vertriebsinfrastruktur einzuspielen. Zusätzlich verlagern Sie einen wesentlichen Teil der Tarifintelligenz, die benötigt wird, um das passende Tarifprodukt für die gewünschte Reise des Fahrgastes zu berechnen, aus der Automatensoftware in die Module selbst. Dies macht die Konfiguration und Entwicklung von Vertriebsinfrastruktur am Ende einfacher, da wesentliche Funktionen, die in jedem Verbund auch anders sind, durch die Produktverantwortlichen selber beigesteuert werden und nicht jedes Mal individuell durch die Industrie angepasst werden müssen. PKM arbeitet daher vor allem im Hintergrund zwischen ÖPNV-Branche und Industrie. Allerdings versetzt es die Tarifverantwortlichen in die Lage, schnell Tarifanpassungen vorzunehmen und flexibel in die Vertriebssysteme einzuspielen. Dies können z. B. saisonale oder anlassbezogene Sondertickets sein, die dann dem Fahrgast kurzfristig zugutekommen oder ihn zum Umstieg auf den ÖPNV bewegen können.

Der AVV hat sich bereits früh mit dem Thema Account-based Ticketing (ABT) beschäftigt und möchte auf diesem Weg u.a. Interoperabilität im grenzüberschreitenden Ticketing erreichen. Inwiefern hat der AVV hierdurch wertvolle Vorarbeit geleistet und ist der Ansatz Ihrer Meinung nach der richtige, um den aktuellen und künftigen Herausforderungen im Bereich Ticketing gerecht zu werden?

Der AVV hat wertvolle Pionierarbeit geleistet, um Account-based Ticketing im Feld zu erproben. Die Anwendung im grenzüberschreitenden Verkehr, um unterschiedliche Ticketing-Systeme miteinander zu verknüpfen, ist auch eine der stärksten Funktionen, die ein ABT-System leisten kann. Auf diesem Feld erwarten wir zukünftig noch viel Bewegung und wir treiben die internationale Standardisierung aktiv voran. Mit den Ergebnissen aus den vergangenen AVV-Projekten und mit dem AVV als Organisation.

Es hat sich aber auch durch diese Projekte gezeigt, dass dort Herausforderungen lauern, die wir vorher nicht in ihrer Dimension erfasst haben. Unser Blick war eher technisch motiviert und wir haben überlegt, wie wir das Problem der unterschiedlichen Systeme und Logiken technisch lösen können. Jetzt zeigt sich, dass Technik der kleine Teil war. Wir müssen in Deutschland und mit unseren Nachbarn viel mehr Fragen der gemeinsamen Regeln und der Organisation klären.

Wir müssen anerkennen, dass einiges in unseren europäischen Nachbarländern anders läuft. Daher ist es wichtig, bei grenzüberschreitender Zusammenarbeit nicht nur auf technische Kompatibilität zu achten, sondern auch auf ein gemeinsames Verständnis. Account-Based-Ticketing wird in Zukunft eine andere Form von vernetzter Mobilität im Hintergrund organisieren können, aber wir müssen zumindest im europäischen Kontext ein Mindestmaß an gemeinsamer Governance errichten, damit wir nicht erneut Inseln bauen.

Im Pilotprojekt „easyConnect“ des AVV wird die vergleichsweise neuartige Barcodetechnologie MOTICS genutzt. Welche Vorteile ergeben sich bei diesem Verfahren, das sich AVV-weit, NRW-weit und auch deutschlandweit im Ausbau befindet, und hat dies Änderungen für die Kundinnen und Kunden zur Folge?

Mit der Verwendung von Motics hat der AVV von Beginn an den Investitionsschutz für easyConnect garantiert und eine zukunftssichere Technologie implementiert. Wir verwenden Motics aktuell als Kopierschutz für Tickets auf dem Smartphone. Das erlaubt eine schnelle Ticket-Kontrolle, da kein zusätzliches ID-Medium geprüft werden muss. Ticketkopien sind mit Motics nicht mehr möglich und das Prüfpersonal kann darauf vertrauen, dass es ein Motics-Ticket nur einmal im gesamten System gibt. Da mit steigender Anzahl von Deutschland-Tickets die hochpreisigen, personengebundenen Tickets zunehmen werden, ist eine schnelle und sichere Kontrolle extrem wichtig, um Kontrollquoten mindestens stabil zu halten, ohne zusätzliches Personal einstellen zu müssen.

Bei Motics handelt es sich aber unter der Haube um einen generischen Sicherheitsanker, der jedes mobile Endgerät in ein sicheres Endgerät verwandelt. Dies ist wichtig für jede Art von sicherer Authentifizierung gegenüber einem anderen System. Diese Eigenschaft wird der ÖPNV z. B. nutzen können, um perspektivisch Barcodes durch NFC-Tickets ersetzen zu können, mit denen dann Gates in den Niederlanden geöffnet werden. Oder im Kontext des Account-based Ticketing sichert Motics die ID auf dem Smartphone des Fahrgasts so ab, dass es nicht zu Konto-Sharing oder ID-Diebstahl kommen kann, in dem eine Person für das Deutschlandticket zahlt und viele andere Personen tatsächlich damit fahren und den Account nutzen

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Ganz schön fortschrittlich! Im AVV werden Tarifmodule seit 2022 für die AVV-Fahrplanauskunft und die naveo-App genutzt, um diese mit den richtigen Produkten und Preisen zu versorgen. Parallel sind im Dezember die ASEAG-Automaten mit Produktmodulen an den Start gegangen. Die Vertriebskanäle Fahrzeugverkauf und Vorverkaufsstellen sowie Kundencenter werden in Bälde ebenfalls mit standardisierten Tarifdaten versorgt. Für die Kontrolle werden Kontrollmodule bereits seit 2017 flächendeckend genutzt. Somit ist der AVV in Sachen PKM ganz vorne mit dabei!

Die VDV-Kernapplikation ist der offene Daten- und Schnittstellen-Standard für elektronisches Ticketing bzw. Elektronisches Fahrgeldmanagement (EFM) im ÖPNV und damit das technologische Herzstück des elektronischen Fahrkartensystems (((eTicket Deutschland, auf dem die deutschlandweit eingeführten EFM-Systeme basieren. Der AVV setzt die Systeme standardkonform um und stellt sich so optimal für die Zukunft auf. Bezahlen und Ticketing werden eins.

Spätestens seit der Corona-Pandemie ist das kontaktlose Bezahlen im täglichen Leben zunehmend auf dem Vormarsch und die Möglichkeit, mittels EC-Karte zu bezahlen, nahezu allgegenwärtig. Was unterscheidet die KA-Bezahlverfahren von den herkömmlichen elektronischen Bezahlverfahren und welchen Mehrwert bietet deren geplante Einführung im AVV – sowohl aus Fahrgastsicht- als auch aus Sicht der Verkehrsunternehmen?

Die VDV-KA-Bezahlverfahren sind eine spannende technologische Lösung für ein ÖPNV-eigenes Debit- bzw. Kreditkartensystem. Es gibt verschiedene Stufen, die im Aufbau gewählt werden können, aber im Kern geht es immer darum, das Bargeld aus dem System ÖPNV herauszunehmen. Interessanterweise beschäftigten sich mehrere Verbünde vor der Corona-Krise bereits intensiv mit Projekten, die das Ziel hatten, Bargeld zu reduzieren, da Bargeld im Handling teuer ist, Automatentechnik wartungsintensiver und der Fahrerverkauf, je nachdem, wen man fragt, Zeit kostet und andere Gefahren mit sich bringt.

Ein eigenes ÖPNV-Bezahlsystem ist natürlich dann attraktiv, wenn es schrittweise von immer mehr Unternehmen umgesetzt wird und der Fahrgast mit seinem Nutzungsmedium nicht nur zu Hause Tickets erwerben kann. Für den ÖPNV bietet ein solches System einen einheitlichen Service für die Kundinnen und Kunden und die Integration neuer Marketinginstrumente. Bezahlen und Ticketing werden eins und Kunden haben die Wahl zwischen Prepaid-Karten oder automatisierten Kundenkonten. Äußerst attraktiv ist natürlich der Umstand, dass weder Kooperationen mit Kreditinstituten eingegangen werden müssen noch irgendwelche Transaktionsgebühren für die Karten anfallen. Das System und der Standard gehören ja bereits dem deutschen ÖPNV.

Bieten die KA-Bezahlverfahren auch die Möglichkeit des Kaufs von elektronischen Fahrberechtigungen, ohne dass sich die Menschen hierzu irgendwo im Vorfeld registrieren müssen?

Das ist im Prinzip die größte Stärke und wird vermutlich in Zukunft deutlich relevanter. Bundesverkehrsminister Wissing hat mit dem Deutschland-Ticket als rein digitalem Ticket eine sehr große Digitalisierungswelle ausgelöst. Wir werden also in den kommenden Monaten und Jahren dahin kommen, dass alle Unternehmen digitale Tickets ausstellen können. Im nächsten Schritt wird man sich die Frage stellen müssen, für wie viele Kundinnen und Kunden man denn die teure Bargeld- und Papierticket-Welt noch betreibt. Denkt man das betriebswirtschaftlich weiter, werden alle Tarifprodukte digitalisiert und man hat als Ausgabekanal das Smartphone und die Chipkarte. Der ÖPNV ist, gemäß der PBefG-Novelle von 2021, nicht verpflichtet, den Kauf per Bargeld flächendeckend und überall zu gewährleisten. Aber es muss eine Möglichkeit geben, den ÖPNV im Sinne der Daseinsfürsorge anonym nutzen zu können.

Hier kommen die KA-Prepaid-Karten ins Spiel, die ohne Registrierung gegen Bargeld an einigen Automaten oder in Kundencentern verkauft oder aufgeladen werden können. Will man Bargeld im direkten Ticketverkauf abschaffen, hat man so eine Lösung, die datenschutztechnisch geklärt ist, dem ÖPNV selbst gehört und darüber hinaus interoperabel ist sowie deutschlandweit eingesetzt werden kann.

Der AVV versucht, die Systeme aus dem (((eTicket-Deutschland, wie MOTICS, KA-Bezahlverfahren und PKM, zu treiben.

Wie wird dies von der VDV-ETS gesehen?

Sehr gut. Wie bereits erwähnt setzt der AVV die einzelnen Komponenten von (((eTicket Deutschland standardkonform um, ohne lokale Besonderheiten mit systemischen Sonderlösungen zu begegnen. Der AVV nutzt dazu den Standard VDV-Kernapplikation in einer sauberen Umsetzung und erzielt damit zwei für uns wertvolle Ergebnisse.

1. Der AVV stellt maximalen Investitionsschutz für seine Vertriebsinfrastruktur her. Für alle Weiterentwicklungen an seinen Systemen ist der AVV hervorragend aufgestellt, kann zügig neue Technologien implementieren und ist frei in der Wahl seiner technischen Dienstleister. Niemand muss sich zeit- und kostenintensiv in Sonderlösungen einarbeiten, sondern weiß mit einem Blick, wie die standardkonformen Systeme arbeiten. Damit sind auch Updates keine langwierigen Softwareprojekte, sondern standardkonforme Systeme profitieren von standardisierten Updates.

2. Mit seinen Umsetzungen zeigt der AVV auch anderen Verbünden, was möglich ist und wie das geht. Von der Erfahrung und den Praxisberichten profitieren die Unternehmen der Branche, die neuen Technologien eher etwas skeptisch gegenüberstehen und den Aufwand scheuen. Technologie und Anforderungen bleiben aber nicht stehen und viele Unternehmen der Branche sind erst am Anfang der Digitalisierung. Hier ist der AVV ein wichtiger Multiplikator, vor allem im bevölkerungsreichsten Bundesland mit seiner dichten Verkehrsinfrastruktur. Wir als VDV-ETS sind auf Unternehmen wie den AVV angewiesen, die täglich in der Praxis zeigen, dass standardisierte digitale Lösungen sowohl durch die Branche umsetzbar sind als auch Vorteile für alle bringen.

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